Der aktuelle Stand
Beim Versuch eine Ethik aufzustellen, sind wir beim letzten Post bei moralischen Werten stehen geblieben. Die bisherige Rohfassung unserer Ethik ist also eine Ansammlung, eine Menge von Werten nach denen man handeln muss. Wenn beispielsweise jemand hungert, dann sollte man ihm auf Grundlage des Wertes "Gesundheit" etwas zu essen geben.
Die Realität ist aber leider nicht immer so einfach. Bei fast jeder Menge von Werten existieren Situationen, in denen es zu einem Wertekonflikt kommt, also jede mögliche Handlung gegen die Werte verstößt, bzw. im Einklang mit ihnen steht, man also wieder nicht weiß, wie man handeln soll.
Ein aktuelles Beispiel wären die Maßnahmen, die die Regierung gegen die Verbreitung des Coronavirus erlassen hat: Wenn also die beiden Werte "Freiheit" und "körperliche Gesundheit" in der Menge enthalten sind, dann ist jede Handlung falsch, bzw. richtig, denn Maßnahmen schränken die Freiheit ein, schützen aber die Gesundheit.
Selbst wenn man Freiheit und körperliche Gesundheit objektiv quantifizieren könnte, würde man immer noch Äpfel mit Birnen vergleichen. Jede Ethik, in der es zu einem Wertekonflikt kommen kann, braucht also eine Möglichkeit mit Wertekonflikten umzugehen, bzw. diese zu verhindern.1
Die folgende Einordnung der Möglichkeiten ist zwar mit Argumenten untermauert, aber keinesfalls logisch zwingend, deshalb möchte ich hiermit den Leser dazu auffordern, sich selbst Gedanken zu machen und sich eigene kreative Ideen gegen Wertekonflikte vorzugehen, zu überlegen und diese zu kommentieren, sowie meine Einordnung zu kritisieren.
Möglichkeiten Wertekonflikte zu verhindern
Verhindern kann man Wertekonflikte nur, indem man die Werte selbst so einschränkt, dass keine Wertekonflikte mehr auftreten können.
Eine Möglichkeit, dies zu tun ist es, die Zahl der Werte auf einen zu beschränken. Wenn man nur einen Wert hat, kann dieser mit keinem anderen in Konflikt geraten. Der Nachteil dieser Variante ist es, dass man mit diesem einen Wert sämtliche Entscheidungen so analysieren können muss, dass das Ergebnis auch der menschlichen Intuition von Moral entspricht. Dazu, ob es einen solchen Wert gibt, kommt später mehr.
Die zweite Möglichkeit, Wertekonflikte zu verhindern ist, die Werte spezifischer zu fassen: Anstatt körperliche Gesundheit und Freiheit, nimmt man konkretere, nur auf diese Situation zutreffende Werte, wie "das Senken der Infektionsrate des Coronavirus um X Prozent durch die Einschränkung der Freiheit in Punkt Y". Dies hat den Vorteil, dass dieser "Wert", weil er so konkret ist sicherlich nicht bei irgendwelchen anderen Entscheidungen "dazwischenfunken" und für Konflikte sorgen kann. Allerdings ist er auch leider so spezifisch, dass er auch in keiner anderen Situation angewendet werden kann. Nach der vorherigen Definition ist das zwar noch ein Wert, anhand der Prämisse das, was er beinhaltet, gut ist, kann man damit moralische Schlussfolgerungen ziehen, aber das ist nicht das, was man sich normalerweise unter einem Wert vorstellt. Ich würde es einen "entarteten Wert" nennen. Der Nachteil solch spezifischer Werte ist offensichtlich: Man bräuchte für (fast) jede mögliche Situation einen Wert, was die Anwendung quasi unmöglich macht und außerdem willkürlich ist. Damit würden genau die im vorherigen Post genannten Gründe nicht mehr da sein, aus denen man eine Ethik besitzen sollte, die nicht nur vom Gefühl, sondern auch vom Verstand geleitet ist, nämlich vor allem die Kommunikation und Universalisierbarkeit. Folglich ist das keine gute Möglichkeit Wertekonflikte zu verhindern und sollte verworfen werden.
Möglichkeiten mit Wertekonflikten umzugehen
Die einfachste Idee ist natürlich, die Werte zu hierarchisieren, sodass man ein Wertetupel, bei dem es auf die Reihenfolge der Werte ankommt, erhält. In der obigen Situation könnte man zum Beispiel sagen, dass körperliche Gesundheit vor Freiheit steht. Folglich die Maßnahmen zu treffen sind. Wenn man aber davon ausgeht, dann könnte man allerdings auch sagen, dass man das Autofahren oder das Haus zu verlassen ohne Arbeiten zu müssen verbieten sollte, weil es der Gesundheit schadet (z. B. Unfälle) und diese ja mehr Wert ist als die Freiheit. Wenn man stattdessen die Freiheit priorisiert, dann kann man eben zum Beispiel nichts gegen die Ausbreitung der Krankheit erlassen, oder man müsste gar den Staat ganz abschaffen, weil jedes einzelne Gesetz ein Einschnitt in die Freiheit ist.2
Die zweite Möglichkeit ist jene, welche in der Realität meist implizit (d. h. ohne es direkt auszusprechen) angewandt wird. Im Fall eines Wertekonflikts wird auf einen dritten, beiden zugrunde liegenden Wert (ich nenne ihn im Folgenden den Suprawert), zurückgekommen. Beispielsweise kann man sich fragen, welche Handlung am wenigsten Leid erzeugt, beziehungsweise am meisten Glück erzeugt. Dann kann man möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass die Coronamaßnahmen legitim sind, weil die Krankheit mehr Leid erzeugen würde, als es die Maßnahmen tun und dass das Verbieten des Verlassens des Hauses unverhältnismäßig ist, da es mehr Leid erzeugt als verhindert. Meine persönliche These ist, dass Verfassungsrichter und Politiker genau das tun, wenn sie entscheiden, ob diese Handlung legitim ist/war, auch wenn sie die Worte Leidverminderung und Glückserzeugung fast nie aussprechen.3
Der Nachteil dieser Möglichkeit ist, dass das die Frage aufwirft, wozu man die beiden anderen Werte dann noch braucht, wenn im Fall eines Konflikts sowieso auf einen anderen zurückgegriffen wird. Mir sind zwei Begründungen dafür eingefallen, von denen die zweite streng genommen keine ist:
- Ein Fall, in dem man die beiden anderen Werte noch braucht, ist der, wenn eine Situation existiert, bei der es keinen Wertekonflikt gibt, (man also nicht auf den Suprawert zurückgreifen muss,) und der normale Wert zu einem anderen Ergebnis, kommt, als der Suprawert kommen würde (und man seine Ethik so konstruieren will, dass das andere Ergebnis nicht das des Suprawertes herauskommt).
- Man akzeptiert, dass die anderen Werte streng genommen unnötig sind, behält sie aber als Richtlinie, als Annäherung an das wirklich moralisch Gute bei, um sich die möglicherweise komplexere Argumentation zu ersparen: Wenn beispielsweise Glück als Suprawert gewählt wird, kann man die körperliche Gesundheit als Wert behalten, der unter Bedingungen aus dem Glück hergeleitet wurde (wenn man nicht gesund ist, erfährt man Leid und ist auch nicht glücklich). Damit kann man sich im Fall des Menschen der hungert, die Argumentation erleichtern, indem man einfach sagt, dass das Hungern der Gesundheit schadet und man deswegen etwas zu essen geben sollte und nicht sagen muss, dass das Leid des Menschen durch Essen am effektivsten gelindert wird. Zugegeben, in diesem Fall ist die Argumentation mit Glück nicht viel komplexer, aber der Sinn dahinter, es so zu sehen, ist, dass die meisten Menschen es nicht gewohnt sind mit Leidvermeidung oder Glückserzeugung zu argumentieren. Es aber die Kommunikation wesentlich erleichtert, einfach sagen zu können, dass die Krankheit an sich schlecht ist, statt sagen zu müssen, dass die Krankheit an sich neutral ist und erst durch das Leid, das sie potenziell erzeugt, schlecht wird.4
Wie ich mit Wertekonflikten umgehe
Wie eventuell schon aus den Beispielen ersichtlich ist, vertrete ich die Meinung, dass man Wertekonflikte am besten umgeht, indem man nur einen Wert hat, nämlich die Leidvermeidung, bzw. Glückserzeugung. Ich denke, dass dieser Wert alleine theoretisch ausreicht, um in allen Situationen die richtige Entscheidung zu treffen.
Neben der Vermeidung von Wertekonflikten gibt es noch einen anderen Grund, beispielsweise nur Glück als einzigen Wert festzulegen: Ockhams Rasiermesser besagt Folgendes:5
- Von mehreren hinreichenden möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen.
- Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält und wenn diese in klaren logischen Beziehungen zueinander stehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt logisch folgt. Glück als einziger Wert sind, da jeder Wert als Hypothese angesehen werden muss, weil er eine Prämisse ist, weniger Hypothesen als jede andere Ethik mit mehr als einem Wert. Folglich ist sie den anderen vorzuziehen.
Außerdem ist Glückgewinnung und Leidvermeidung etwas bei dem jeder Mensch zustimmen würde, dass es gut und erstrebenswert ist. Bei anderen Werten wie Freiheit ist das weniger der Fall: Es ist ein eher westlicher Wert, dem viele Leute aus dem Osten, sei es der ehemaligen Sowjetunion, oder dem heutigen China, nicht zustimmen würde. Folglich entspricht eine Ethik, die nur auf Glück aufbaut, eher den Intuitionen von Menschen, als eine, die auf Freiheit aufbaut.
Übringens ist das auch das klassische Argument gegen den kantschen kategorischen Imperativ: Angenommen man lebt im Dritten Reich und versteckt einen Juden. Nun kommt die SS und fragt, ob man einen Juden versteckt. Ein Kantianer wüsste nicht, was er tun soll, denn Lügen ist schlecht ("Die Maxime, dass man bei Fragen lügt kann niemals allgemeines Gesetz werden."), aber das Ausliefern von Freunden an den fast sicheren Tod ebenfalls. Kant liefert auch kein Werkzeug mit Wertekonflikten umzugehen. Folglich ist ein Kantianer hier unentschlossen. (Die obige Darstellung ist selbstverständlich verkürzt. Ich habe vor, dem Thema in Zukunft noch einen ganzen Blogpost zu widmen.) ↩︎
Auch diese Darstellung ist simplifiziert und verkürzt, zum Beispiel könnte es jeweils andere Werte geben, die das "Negativbeispiel" verhindern. Es ist aber nicht der Zweck des Beispiels, vollkommen unanfechtbar zu sein, sondern es soll dem Leser nur eine bessere Vorstellung der Begriffe geben und den abstrakteren Text untermalen. ↩︎
Hier folgt ein Beispiel für einen Fall genau dieses Abwägens, in dem ein Gericht eine Ausgangssperre außer Kraft gesetzt hat https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/Startseite/Medien/Corona-Verordnung_+Naechtliche+Ausgangbeschraenkungen+ab+Donnerstag+ausser+Vollzug_+Erfolgreicher+Eilantrag+gegen+Corona-Verordnung/ ↩︎
Für diejenigen die sich ein wenig mit Physik auskennen kommt hier nochmal eine Metapher die aufzeigt, wie ich mir das Obige in meinem Kopf vorstelle: Die Leidvermeidung/Glückserzeugung ist das fundamentale Naturgesetz, während die anderen Werte, wie Gleichheit, Gesundheit, oder Freiheit so etwas wie das Hookesche Gesetz sind: Es folgt aus den fundamentalen Naturgesetzen, ist zur Beschreibung dieses Phänomens besser geeignet, weil es weniger komplex ist, es gilt aber nur in einem bestimmten Rahmen, weil bei der Herleitung aus den fundamentalen Gesetzen Annahmen gemacht wurden, also zum Beispiel nur das lineare Taylorglied genommen wurde, sodass ein quadratischer Restterm übrigbleibt. ↩︎
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ockhams_Rasiermesser am 14.02.2021 um ca. 20 Uhr ↩︎